Mein erster Tag. Meine „Kochmütze“ aus Vlies rutscht mir ständig vom Kopf. Die schwarze Schürze mit weißen Streifen musste ich mir mühsam aus einem riesen Kneuel aus frisch gewaschenen Schürzen „erkämpfen“. Eine der Verkäuferinnen meint auf Englisch zu mir, warte ich mach das und tatsächlich ist sie während sie mit ihrer Kollegin weiter spricht schneller als ich.
Nun bin ich hier in einer kleinen Ortschaft in den Niederlanden. Kleine Straßen, kleine Backsteinhäuser mit niedrigen Fenstern, die viel Einblick in das Leben der Bewohner gewähren, besonders jetzt in der kalten Jahreszeit, wenn es früh dunkel wird und die Wohnräume erleuchtet sind.
Doch nun von vorn. Als ich im Zug sitze und die Grenze zu den Niederlanden überschritten ist, schaue ich mir die flache Landschaft an. Eigentlich weiß ich nicht viel über die Niederlande, ja Niederlande, dass weiß ich. Die Bezeichnung Holland wäre nicht korrekt, da es nur einen Teil des Landes beschreibt. Dass es kein großes Land ist, wird mir bei meinem ersten Ausflug mit dem Zug nach Amsterdam bewusst. Eine Stunde Zugfahrt und man ist in der niederländischen Hauptstadt, die zugleich auch mit rund 809. 892 Einwohnern zugleich die einwohnerstärkste ist. Sogar noch schneller erreiche ich Utrecht, ’s-Hertogenbosch und ein bisschen weiter entfernt Maastricht. Städte, deren Geschichte und Alter man tatsächlich ansehen kann, sobald man sich zu Fuß durch die kleinen Gassen der Innenstädte, die meist mit den üblichen Einkaufsketten bestückt wurden, bewegt. Nicht selten stammen die religiösen Bauten aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Und auf dem Marktplatz von Den Bosch lässt sich sogar noch das Elternhaus des Künstlers Hieronymus Bosch bestaunen.
Auf jeden Fall mischen sich alt und neu oder stehen im Kontrast zu einander die alten Häuserfassaden beherbergen moderne Restaurants oder Cafés, – in den Schaufenstern blinken die Namen teurer Designer. Kein Phänomen, was nur auf die niederländischen Städte zutrifft, aber trotz allem fällt es mir hier besonders auf.
Ich kann mich nicht entscheiden, wie ich die Freundlichkeit oder manchmal auch Gleichgültigkeit der Niederländer deuten soll. Doch bei all den Grachten, Kirchen, Kathedralen, wunderschönen Häusern frage ich mich – wie prägen Architektur und Geschichte die Menschen hier?
Allerdings lässt mir meine eigentliche Mission keine Zeit für die Beantwortung dieser Frage. Denn für die nächsten Wochen entferne ich mich von dem, was ich eigentlich gelernt habe und werde backen, dekorieren, abwaschen, verpacken… Ich fühle mich bei meinem Vorhaben ein klein wenig wie Günter Wallraff. Jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Enthüllungsjournalisten und mir: alle Beteiligten sind in das Vorhaben eingeweiht. Doch eigentlich interessiert es keinen, dass ich Quereinsteigerin bin. Was zählt, sind eine schnelle Auffassungsgabe, Perfektion und viel Geduld. All diese Eigenschaften erfülle ich nicht wie ich relativ schnell feststellen muss. – Ich scheitere beim Dekorieren der Obsttörtchen, da sie bei mir am Ende einfach nicht gleich aussehen oder lege Pralinenfüllungen nicht in der vorgegeben Ordnung auf das Blech. In meiner ersten Nachtschicht soll ich die kunstvoll in Gold gesprühten Schokoladendekorationen auf die kleinen Sahnetörtchen platzieren, doch auch hier treffe ich selten die Mitte und bin sehr langsam. – Nach den ersten Wochen fällt es mir zunehmend schwerer mich immer wieder für meine Patzer und Fehler zu entschuldigen, auch wenn sich meine „Kollegen auf Zeit“ bemühen mit mir geduldig zu sein, fühle ich mich auch nach ein paar Wochen nicht wirklich zugehörig. – Dieses emsige Tempo, wie in einem Ameisenstaat, jeder Arbeiter weiß, was seine zugehörige Königin von ihm abverlangt und welche Straße er zu nehmen hat. Ich weiß es theoretisch und scheitere in der Praxis. Es gibt eine bestimmte Choreographie, die Gänge sind eng, die Bleche werden mit einer Hand elegant über dem bemützten Kopf balanciert und jederzeit öffnen sich in bestimmten Abständen Türen zum Gang. Oft scheint es mir so, dass ich diesen Rhythmus noch nicht verinnerlicht habe, eher suchend und konfus trage ich die gefüllten Bleche mit zwei Händen in Bauchmitte vor mir her. Mir fehlt das Gefühl zu ahnen, wann sich die nächste Tür zum Kühlraum öffnen könnte. Meine Schuhe sind nicht rutschfest, und meine Hände und Kleidung oft bunt und mit Schokolade verziert.
Doch ich versuche Teil eines Systems zu sein, oft habe ich das Gefühl den Jenga-Turm ins Wanken zu bringen. Es ist eine Mischung aus Beobachtersein und Zugehörigkeit. – Ich bleibe mehr in der Rolle der Beobachterin.
Dabei wird mir klar, dass die Besonderheit der essbaren Kunst im ewig Gleichen liegt, Geschmack, Aussehen, jeden Tag gleich perfekt hinter Glas auf dem Verkaufstresen, dafür werden Bäcker und Konditor weltweit mit Preisen ausgezeichnet. Mir fällt es schwer darin die Besonderheit zu erkennen, etwas das mit den Händen geschaffen wird, jedoch äußerlich und geschmacklich nicht mehr daran erinnern soll. – Perfekte kleine Kunstwerke, bunt, süß und schokoladig. Vielleicht habe ich den Begriff Kunst auch immer falsch ausgelegt oder begeistern uns im Museum eigentlich auch nur die perfekten Gemälde, die eine Unvollkommenheit vortäuschen?