Im vergangenen Jahr erhielt ich durch das Leonardo-Da-Vinci-Stipendium die Möglichkeit für drei Monate am Schlossleben im Château d’Orion im Südwesten Frankreichs teilzunehmen. Für mich war es eine gänzlich neue Erfahrung zu sehen, wie an solch einem Ort Europa lebendig ist: ein europäischer Mikrokosmos.
„Oui, entrez!“ – Es ist die feine und etwas zu hohe Stimme der 86-Jährigen Madame Labbé. Sarah, die junge operative Geschäftsführerin des Château d’Orions öffnet die alte Zimmertür und serviert ein Drei-Gänge-Menü. Ein bisschen fühlt man sich wie aus der Zeit gefallen. Szenen aus Downton Abbey sind hier nicht von der Hand zu weisen, wenn die zierliche, ehemalige Schlossherrin Madame Labbé Sarah aus ihrem großen Bett begrüßt. Während sie mit der Fernbedienung den Fernseher ausschaltet, wandelt sie in ihrem Nachthemd zu ihrem Esstisch. „Bon appetit!“, wünscht Sarah noch, bevor sie die Tür wieder schließt. Die Kirchenglocke schlägt einmal, es ist nun Punkt 12.30 Uhr. Jeden Tag, außer sonntags, bringen die 30-jährige Deutsche Sarah oder Stephan, ihr österreichischer Kollege, das selbstzubereitete Essen in den ersten Stock des Château d’Orion. Einem Schloss im Südwesten Frankreichs, in der Region Aquitaine, im beschaulichen Örtchen Orion. Hier gibt es weder einen Bäcker noch einen Supermarkt oder eine Post, geschweige denn ein öffentliches Nahverkehrsnetz. Die einzige Institution ist die „École maternelle“, die gleichzeitig auch das Büro des Bürgermeisters beherbergt. Oder vermutlich ist es andersherum, das Rathaus bietet der Vorschule Räume.
Vielleicht brauchen die knapp 180 Einwohner des französischen Örtchens nahe der spanischen Grenze all dies nicht. Viele grüne Wiesen, ein atemberaubendes Pyrenäen-Panorama und Häuser im béarnaiser Stil mit markant gewölbten Dächern und steinumrahmten Fenstern. Alles wirkt perfekt und gänzlich unberührt von Industrie und Kommerz. Nur der Lärm der Traktoren, Landmaschinen und Autos erinnert an die moderne Zivilisation. Trotz allem, es würde einen nicht wundern, wenn plötzlich Heidi und der Ziegenpeter zwischen den beige-braunen Kühen auf den satten grünen Wiesen auftauchten. Kühe, die von den Einheimischen übrigens liebevoll „Blondinen“ genannt werden. Auch wenn die Zeit hier nicht stehen geblieben ist, und die Berge sich oft hinter einer dicken Wolkenwand verstecken und der massive Regenfall im Winter den Bauern Probleme für ihre Felder beschert, läuft vieles in Zeitlupe ab. Zeit ist hier keine Mangelware, sondern bedeutet viel mehr. Sie ist ein wichtiges Gut im sozialen wie privaten Bereich aber auch im geschäftlichen Umgang. Über die zwei Stunden Mittagspause der Geschäfte und Restaurants von zwölf bis vierzehn Uhr wundern sich nur Touristen oder Zugezogene. Franzosen möchten mehr reden, sie suchen den persönlichen Kontakt. Sarah erklärt, dass sie sich vieles aneignen musste in Bezug auf die französischen Kommunikationsgewohnheiten. „Small Talk musste ich erst lernen. Das ist hier so wichtig“. Im ersten Jahr hatte sie beispielsweise bei der Beratung von Brautpaaren, die das Schloss für ihre Hochzeit mieten wollten. Zuerst die Fakten und das Finanzielle klären, das sei nur bei Deutschen und Engländern möglich. Und dies habe sie auch nur im ersten Jahr in Bezug auf die Franzosen falsch gemacht. Diese hingegen möchten erst einmal wissen, mit wem sie es zu tun haben, ob die persönliche Bindung stimmt. Die Atmosphäre des Schlosses auf sich wirken lassen und erst am Ende kommt die Frage nach dem Geld. Dies ist nur ein Beispiel von vielen für die Andersartigkeit des Nachbarlandes. Sarah findet diesen Aspekt sehr spannend, sie meint, sie habe sehr viel über die kulturellen Unterschiede als „Schlossmanagerin“ gelernt. Obwohl sich die Andersartigkeit der verschiedenen europäischen Kulturen nur in vielen Kleinigkeiten widerspiegelt, könne sie ihre Liste weiter fortführen.
Bis heute bewohnt die ehemalige Schlossbesitzerin Madame Marguerite Labbé eines der Zimmer im Château. Als letzte Zeitzeugin kann die 86-Jährige noch lebendig von der Schloss-Vergangenheit berichten. Dies tut sie gern, obgleich sie ihr Zimmer nur noch selten verlässt. Bis vor ein paar Monaten fuhr sie noch mit ihrem Auto durch die Orte. Doch dann hatte sie auf einmal beschlossen, das Haus nicht mehr zu verlassen, erklärt Sarah etwas nachdenklich. Denn sie weiß, dass Margeruite Labbé die letzte richtige Schlossdame ist, die all die Geschichten der Vergangenheit nicht nur erzählen kann, sondern Teil einer Ära ist, die bald nicht mehr existieren wird. In den 1950er Jahren heiratete Marguerite Bérard, Tochter des ehemaligen französischen Erziehungsministers Léon Bérard, Jean Labbé. Auf diese Weise wurde nun Marguerite Labbé Teil des großen Château Stammbaumes, zu denen u.a. der Bayonner Schinkenbaron Jean-Ninon Larrouy, sowie der berühmte französische Chirurg Paul Reclus, der die „Pommade de Reclus“ erfand, gehören.
Seit zehn Jahren ist das Château d’Orion nun in deutscher Hand. Im Jahr 2003 kaufte die Familie Premauer das alte Schloss von der Besitzerin Madame Labbé mitsamt Inventar ab. – Es ist vor allem auf die Initiative von Elke Jeanrond-Premauer zurückzuführen, dass das Château nun in diesem Rahmen existiert. Als ein „Ort der Begegnung, der neue Impulse für ein Europa der Regionen schafft“, wie es Elke Jeanrond-Premauer in ihrem Leitbild ausdrückt. Über Jahrzehnte arbeitete Elke als Journalistin in Hörfunk und Fernsehen und war zuletzt Abteilungsleiterin beim Bayerischen Rundfunk. Bis sie sich mit Anfang fünfzig entschloss, aus ihrem bisherigen Leben auszusteigen. Sie war auf der Suche nach einer Begegnungsstätte, die als Lebens- und Denkraum dienen sollte. Bis sie nach Orion kam – “Als ich vor dem heruntergekommenen Landschloss stand, spürte ich sofort den Genius Loci und wusste: Hier kann etwas Wunderbares entstehen!”.
Die Journalistin begann eine neue Form der Begegnung und des Diskurses nach Art der alten Salons ins Leben zu rufen. Unter dem Namen „Denkwochen“, entwickelte sie ihr eigenes Konzept. Dabei möchte sie Menschen aus unterschiedlichen Schichten, Berufen und Altersstufen an diesem Ort in Südfrankreich vereinen, um über neue europäische Denkanstöße und Herausforderungen zu diskutieren. „Sie war ihrer Zeit voraus”, meint Sarah. Denn mit den sogenannten „Denkwochen“, bei denen Themen aus Geschichte, Politik, Philosophie, Literatur und Musik eine Rolle spielen, vereint sie nicht nur Menschen unterschiedlicher Herkunft, sondern treibt den Europa-Gedanken aktiv voran. „Obwohl wir hier eigentlich so weit weg sind von Europa (…)“, merkt Sarah, die junge operative Geschäftsführerin an, sie weiß viel über das Haus, dessen Geschichte und die vielen Ideen von Elke zu berichten. Die aktuelle Schlossherrin ist eine regelrechte „Ideenmaschine“.
Auch wenn in Orion „Europa“ im ersten Moment nicht spürbar ist, birgt dieser Ort ungewöhnlich viel geschichtsträchtigen Hintergrund. Die benachbarte Stadt Pau ist der Geburtsort des Hugenottenkönigs Henri IV.. Der Soziologe Paul Bourdieu wurde in Denguin, einem kleinen Ort zwischen Pau und Orthez geboren. Im 2. Weltkrieg war die Region Aquitaine ein „Résau der Résistance“. Hier verlief nur wenige Kilometer vom Château entfernt, die Grenze, die Frankreich in eine freie und in eine besetzte Zone teilte. Das nahegelegene Internierungslager Gurs erinnert an die Grausamkeiten dieser Zeit. Auch die Philosophin Hannah Arendt war im Mai 1940 eine von zeitweise 20 000 Frauen im Lager Gurs. Heute führt der Jakobsweg die Pilger durch Orion.
Aber nicht nur die Geschichte des Ortes Orion prägt das heutige Leben im Château, vielmehr spürt man den europäischen Geist auch innerhalb der 300 Jahre alten Mauern. Das Schloss ist ein einladender offener Ort ist mit der englischen Köchin Annie, der Französin Dominique, die den Gemüsegarten bewirtschaftet, der deutschen Schlossmanagerin Sarah und dem Österreicher Stephan. Und natürlich mit Elke Jeanrond-Premauer, die mit der Übernahme des Château einen geschichtsträchtigen Ort weiter belebt.
Nehmen wir an, es stimmt, dass das Absolute das Bleibende im Wandel ist. Dann bleibt der Gedanke von Theresa Arlt, einen europäischen Mikrokosmos erlebt zu haben, evident. Kleine Änderungen, die vergehende Zeit festigen nur die Grundhaltung, sie irritieren nicht.
So ist dem Essay über Leben und Arbeiten im Château d’Orion lediglich hinzufügen, dass die beiden jungen Schlossdirigenten Sarah und Stephan in Österreich eine neue Aufgabe übernommen haben. Merle Staege, die ihren Master an der Zeppelin Universität gemacht hat, ist die neue Direktorin des Hauses, Gilles André hat einen Abschluss in Psychologie. Getreu unserer Idee, das Unmögliche zu wagen ist er heute mit dem Management der kulturellen Ereignisse beauftragt. Und er sitzt auch auf dem Rasentraktor um Park und Garten in Harmonie zu bringen.
Apropos Garten, er blüht und gedeiht nun unter der magischen Hand von Melanie, der Gärtnerin die nach Dominique diese Aufgabe übernommen hat.
Alles bleibt im Fluß, eine Herausforderung, ein Prozess und dennoch:
Château d’Orion ist das Gästehaus, das durch Begegnung, Impulse für das Europa der Regionen schafft. Jeder, der hier einkehrt, trägt dazu bei!