Lieber Peter Härtling,
ich glaube, so oder so ähnlich habe ich vor über achtzehn Jahren begonnen Ihnen zu schreiben auf einem sehr kitschigen Briefpapier. Ich schrieb in der Erwartung vielleicht eine Karte des Verlags mit Ihrer Unterschrift zu bekommen, allerdings hätte mich die private Adresse schon stutzig machen können.
Ich erhielt als Rückantwort eine Postkarte, mit einem in Schreibmaschinenschrift gedruckten Gedicht, welches wahrscheinlich auch schon seit Jahren auf Ihrer Website steht.
Daneben ein Foto von Ihnen. Auf der Rückseite bedankten Sie sich persönlich für meinen wunderbaren Erzählbrief und ein wenig roch die Karte noch nach Ihrem Rasierwasser, daran erinnere ich mich. Danach steckte ich eine Kopie meines Briefes mit Ihrer Antwort in eines Ihrer Bücher, wo beides vermutlich noch heute liegt. Ich habe mich für diesen zweiten Brief bewusst dagegen entschieden, den Alten zu lesen.Lieber Herr Härtling Sie haben mich immer durch verschiedene Lebensphasen begleitet, ich habe Ihre Stimme auch beim Lesen im Ohr, da sie mir durch Lesungen und Hörbücher bekannt und vertraut ist. Diese Stimme, die einem beinah familiär vorkommen kann und mir als Kind auch oft Trost spendete oder mir half Situationen besser zu verstehen.
Ich ging als Elfjährige mit Jette in den Buchladen zu Herrn Topf und seinem Freund und lauschte den Geschichten der beiden Buchhändler. Ich litt mit Jette als sie nicht mehr in den Laden gehen durfte, weil auf einmal ein vermeintlicher Verdacht Jettes Buchladenbesuche überschattete. Ich fand in Kalles Oma, ein Stück meiner Oma wieder, die auch eher pragmatisch orientiert und von den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs geprägt war, – nach Außen härter wirkte, als es tatsächlich der Fall war. Ich bekam ein bisschen Großfamiliengefühl in Mit Clara sind wir sechs und musste über die Tantchen lachen, die mit ihrem Dialekt ebenfalls an meine Oma erinnerten.
Durch Krücke erfuhr ich wie es sich angefühlt haben muss, neu anzufangen, wenn wirklich alles nach einem Krieg zerstört ist und das soziale Gefüge und vor allem das Vertrauen in den Menschen wieder wachsen muss.
Ich könnte die Liste fortführen, ich habe nicht alle Ihre Kinder-und Jugendbücher gelesen und auch nicht all Ihre Romane. Doch manche kenne ich besser, weil ich sie mehrfach in den Händen hielt.
Nun sind Sie nicht mehr und dieser Brief wird Sie also nicht mehr erreichen und ich hätte Ihnen auch kein zweites Mal geschrieben. Damals, als ich Ihnen zum ersten Mal schrieb, war ich vermutlich zwölf Jahre alt oder etwas älter. Heute käme ich mir zu alt vor, Ihnen zu schreiben, weil mir die Bewunderung für Ihre Bücher in einem Brief zu wenig wären oder ich die Form nicht passend finden würde. Nein, das war also mein erster und letzter Brief an einen Schriftsteller.
Dieser Brief ist eigentlich kein Brief an Sie, kein Brief an andere, vielleicht ist es auch einfach ein Brief an mich selbst. Denn diese Idee über Sie zu schreiben, schwirrt in meinem Kopf, seit ich die Nachricht Ihres Todes las. Ich war darüber nicht verwundert, weil ich wusste, dass Sie über achtzig Jahre alt waren und Sie Ihren Gesundheitszustand auch in einem Ihrer letzten Bücher thematisierten. Ich war trotz allem traurig und habe versucht zu verstehen, wie sich diese Traurigkeit zusammensetzt. Bis mir klar wurde, dass Sie vielleicht ein Familienmitglied aus meinem Bücherregal sind.
Denn manchmal entsteht Nähe und Vertrautheit über Sprache. Ich kannte und kenne Sie nur aus Büchern oder von Lesungen. Aber ich glaube, dass Ihre Bücher dazu beigetragen haben, dass ich verstanden habe, was Literatur sein kann.
Ich habe als Kind durch sie gelernt, wie wichtig es ist ernst genommen zu werden. Pferde-Mädchen-Romane oder Fantasy-Bücher haben mich nie interessiert. Erst später habe ich in einem Essay-Band gelesen, was ich als junge Leserin intuitiv beim Lesen mitbekam, dass Sie eben auch junge Leser ernst nehmen und keine Miniaturwelt der Erwachsenen für kleine Leser erschaffen wollten. Weil es Sie aufregte, begannen Sie Ihren Kindern aus der Not heraus Bücher vorzulesen, die Sie selbst gerade lasen, egal, ob diese für Kinderohren bestimmt waren oder nicht, bevor Sie selbst zum Kinder- und Jugendbuchautor wurden.
Mich hat an all den öffentlichen Rückblicken über Ihr Leben und Ihr literarisches Schaffen gestört, dass das Klischee, gegen das Sie sich auch zu Lebzeiten schon wehrten, plötzlich selbstverständlich in die Berichte über Sie eingeflochten wurde.
Ja, Sie schrieben Kinder- und Jugendbücher, aber Sie waren auch ein Autor für Erwachsene, ein Lektor, Journalist, politisch Engagierter, Kriegskind, Familienvater. Ja, in Ihrer Stimme liegt etwas Vertrautes, wenn man Ihre Hörbücher hört oder Sie auf einer Lesung erlebte, dann passte man sich automatisch Ihrem Sprachrhythmus, Ihrer Gedankenwelt an. Trotz allem war ich enttäuscht, dass Ihr Leben in einigen Rückblicken auf etwas geschrumpft wurde, was nur den lieben „Kinderbuch-Onkel“ oder den alternden Schriftsteller hervorhob, nach dem viele Schulen benannt wurden und die Tatsache, dass Ihre Bücher Ben liebt Anna oder Das war der Hirbel seit Jahrzehnten auf Deutschlehrplänen stehen, ausreichten dieses Klischee aufrechtzuerhalten. Ja, auch ich habe Sie jung kennengelernt und war sehr froh darüber, doch ich bin älter geworden und wechselte dann ganz automatisch zu Ihren Musikerbiographien und Romanen.
Es gab auch lange Pausen und einige Bücher von Ihnen stehen im Regal, ohne dass ich sie gelesen habe. Mitten im Studium war es dann wieder so weit, ich entschied mich für ein Seminar über ein schmales Buch von Ihnen zu schreiben, es war zum damaligen Zeitpunkt Ihr Aktuellstes. Ich las es und wollte eigentlich so sehr, dass es da anknüpft, wo ich zuletzt in Ihren Geschichten stehengeblieben war. Doch ich gestand mir ein, dass es nicht so war. Vermutlich weil ich älter war, Sie waren älter geworden und vielleicht ist es wie bei richtigen Familienmitgliedern, es gibt unterschiedliche Phasen und manche geht man eher allein, um sich später wieder aus einem anderen Blickwinkel anzunähern. Sie waren sehr produktiv bis ins hohe Alter und auch wenn sich mein Regal mit vielen orangenen Kinderbüchern gefüllt hat, so stehen daneben ebenso viele weiße Buchrücken, die Ihren Namen tragen.
Lieber Peter Härtling, ich weiß, dass greift hier alles zu kurz, aber warum sollte ich Ihr Leben nacherzählen, wenn ich Ihnen schreibe, Sie kennen es selbst am besten und haben selbst oft genug darüber erzählt und natürlich in fast all Ihren Romanen steckt ein Stück Ihrer Lebenserinnerungen, Ihres Alltags, Ihrer Erfahrungen, Ihres Umfelds.
Ich habe Ihnen vielleicht auch nur geschrieben, um mich bei Ihnen zu bedanken und mir bewusst zu werden, dass Sie mich literarisch bis jetzt auch ein Stück durch mein Leben begleitet haben und das eben auf eine vielfältige Weise. Deshalb ist es vielleicht doch ein zweiter Bief an Sie, an mich, an andere.
Veröffentlicht am 1. September 2017
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